Discours du conseiller fédéral Ignazio Cassis AD Bienne 2.10.2021

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Signora Presidente, cara Petra

Signor Presidente del gruppo parlamentare, caro Beat

Signor candidato alla Presidenza, caro Thierry

Signora Consigliera federale, cara Karin

Stimati ospiti, stimati Delegati

Care amiche e cari amici liberali-radicali

Questo 2 ottobre 2021 è un giorno importante, per tre ragioni:

1. la prima, ovviamente, per l’elezione del nuovo Presidente, chiamato ad assumere la guida del nostro partito. Una grande responsabilità e un enorme lavoro;

2. la seconda, perché ci troviamo a metà legislatura. Tempo di bilanci e di prospettive;

3. la terza, perché siamo nel bel mezzo di una crisi pandemica, economica e di società.

 

Oui, Mesdames et Messieurs.

Notre assemblée générale va prendre une décision importante dans un moment difficile. Le climat social est tendu, la fatigue liée aux conséquences de la pandémie est bien perceptible. Chez nous en Suisse, mais également - voir encore plus - dans le monde entier.

 

1. Multilateralismus

La semaine dernière j’ai eu l’honneur, avec le Président de la Confédération Guy Parmelin, de représenter la Suisse à l’assemblée générales des Nations Unis à New York. Enfin de nouveau des contacts physiques, après une année 2020 que je qualifierais de … surréelle. Enfin des contacts, comme aujourd’hui dans cette salle !

L’envie d’écouter, d’échanger, de comprendre était grande. J’y ai retrouvé le plaisir d’échanges qui semblaient auparavant escomptés, voire parfois oiseux. Même l’ONU, parfois critiqué pour son inefficience, semblait avoir retrouvé sa tenue de fête. C’est bien dans les crises mondiales – et la pandémie n’en est hélas qu’une – que l’on réalise la nécessité du multilatéralisme, malgré où même grâce à ces critiques. Une raison de plus pour s’engager dans les grandes réformes de ces institutions – comme le fait la Suisse!

Bei jedem Gespräch war zuerst immer die COVID Frage. Wie läuft es in Ihrem Land? Wie geht es den Menschen? Reicht die medizinische Versorgung? Wie ist es mit den Arbeitsplätzen? Wie weit haben Sie geimpft?

Jede Antwort wiederspiegelte direkt – manchmal dramatisch - dem Zustand und dem Wohlstand des Landes. So war es sehr selten zu hören, dass es mehr Impfstoffe als Impfwillige gibt. Eine exquisite Rarität.

 

2. COVID19

Und damit bin ich zurück in der Schweiz, in media res.

Liebe Freunde, geschätzte Zuhörerinnen und Zuhörer

Ich spüre in mir ein Unbehagen. Wir haben Geld, Impfdosen, ein gutes Versorgungssystem, erstklassige Logistik und breitbandige Kommunikationskanäle. Wir haben - im Gegensatz zu so vielen anderen Ländern - alles in der Hand, um die ganze Bevölkerung gegen das Virus zu schützen und diese Krise so innert Wochen weitgehend zu beenden. Trotzdem erleben wir in diesen Tagen viel Hektik und Aggressivität – ein gehässiges Klima

Gewisse Menschengruppen sind stark gereizt. Sie wollen aus der Pandemie raus, jedoch ohne Impfung, ohne Erkrankung – und ohne Freiheitseinschränkungen; auch dort wo ihre Freiheit diejenige der Anderen bedroht.

Als Arzt weiss ich, dass eine Seuche nur dann ausgerottet werden kann, wenn der Mensch im Blut Antikörper gegen den Seuchenerreger hat, was nur dank Krankheit oder Impfung geschieht. Das Testen schützt sich selber nicht vor der Ansteckung.

Und genau da ist mein erstes Unbehagen: Die meisten Länder der Welt haben zu wenige Impfstoffe und wir leisten uns den Luxus, zu wenige Impfwillige zu haben.

Sind wir in der Schweiz wirklich so weit oben auf der Maslow’schen Bedürfnispyramide angekommen,

  • dass wir die Bodenhaftung – sprich die Orientierung - verloren haben?
  • dass die persönliche Selbstverwirklichung höher gewichtet wird als die Sicherheit?
  • dass wir keinen Gemeinsinn mehr haben?

Hat uns wirklich der Wohlstand so verwöhnt?

 

3. Freiheit

Im Zentrum der Präambel unserer Verfassung steht die Freiheit und deren Stärkung. Erst- und letztgenannt - und damit die Freiheit umrahmend – steht aber die Verantwortung gegenüber der Schöpfung und dem Wohl der Schwachen.

Liebe Freisinnige, liebe Gäste

nehmen Sie sich das zu Herzen, tragen Sie Verantwortung, lassen Sie sich impfen! Nur so befreien wir uns vom Virus, vom Covid-Zertifikat und allen anderen freiheitsbeschränkenden Massnahmen.

Das ist allerding nicht mein einziges Unbehagen: Die COVID Krise hat eine vorbestehende Tendenz verstärkt und beschleunigt: Ich spreche von der «Erwartungshaltung gegenüber dem Staat». Diese hat kritische Proportionen eingenommen und droht über die Prinzipien unserer liberalen Demokratie hinaus zu schiessen – unserer «Noch» liberalen Demokratie.

Zurecht haben wir die Pandemie Geschädigten mit Steuergeldern unter die Arme gegriffen. Zurecht war der Staat «the last resort» in der grössten Krise seit dem zweiten Weltkrieg. Aber das hat auch zu einer überbordenden Erwartungshaltung geführt. Die Erwartung nach dem ewigen Fluss staatlicher Hilfsgelder. Wie wenn aus der Ausnahme die Regel entsteht. Hörte man bis in den Sommer letztes Jahres noch das Wort «Danke» - verschwand es in der Folge der Pandemie und wandelte sich um in «es ist mein gutes Recht!».

Es gibt kein Menschenrecht auf gratis Geld. Wir müssen möglichst schnell zu Normalität und mehr Eigenverantwortung, zu Bürgerinnen und Bürger eines liberalen Staates zurück. Weil liberal ist unser Credo und unser Rezept zugleich.

 

4. Liberal

Aber was heisst eigentlich liberal? Liberal ist das Bekenntnis zur Demokratie, zur freien Marktwirtschaft und zum Primat der Interessen des Individuums gegenüber denjenigen des Staates.

Der peruanischer Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa ergänzte diese Grundprinzipien des Liberalismus mit der Bedeutung der Kultur. Denn es sind nicht nur abstrakte Begriffe und die Algorithmen des freien Marktes, die unser Leben bestimmen, sondern die kulturelle zivilisatorische Entwicklung von Toleranz und Respekt für andere. Respekt heisst auch der sparsame Umgang mit kollektiven Ressourcen – finanziell, human wie ökologisch.

Deshalb bin ich zutiefst überzeugt:

  • Wir Freisinnigen müssen stärker für unsere liberalen Überzeugungen kämpfen.
  • Wir müssen entschiedener gegen das kollektivistische Stammesdenken auftreten.
  • Wir Freisinnigen müssen uns mehr einsetzen, für unsere Vision selbstständiger, eigenverantwortlicher Bürger, die gemeinsam Verantwortung für das Ganze tragen.

Auch wir scheinen uns von der Krise einlullen zu lassen. Wir müssen aufwachen!

Mit Mut, Begeisterung, Kreativität - und vor allem als Vorbilder – müssen wir tagtäglich den liberalen Tatbeweis erbringen. Wir alle in diesem Saal … und die da draussen!

 

5. Einheit in der Vielfalt

Mesdames et Messieurs

Permettez-moi de  jeter un autre coup d'œil au préambule de notre constitution. Elle évoque la volonté de « vivre ensemble nos diversités, dans le respect de l’autre et l’équité » [1]. Le climat social actuel est tendu, même si nous avons tout le nécessaire pour maitriser la crise. Que cache donc cette tension ?

Le citoyen semble devenir incapable de gérer la pluralité dont il est question dans la Constitution. Son rapport à l’Etat se développe vers une dépendance, comme s’il avait perdu la boussole de notre démocratie libérale, comme s’il avait perdu la confiance en lui-même et la capacité d’exercer responsablement sa liberté. « Seul est libre qui use de sa liberté » affirme notre Constitution.

Cela est étrange. La pluralité de langues, de cultures, d’émotions et d’humour fait la Suisse. Elle façonne notre sensibilité. Et nous avons appris à chercher des compromis. C’est encore et toujours notre pain quotidien, malgré la crise COVID, malgré une radicalisation des mouvements collectifs, malgré la polarisation politique pour magnifier sa clientèle. Nous - les libéraux-radicaux - appelons ceci « cohésion ».

 

6. Innovation

Care amiche, cari amici liberali-radicali

Se tutto va come deve, oggi eleggiamo un nuovo presidente. Thierry Burkart è pronto ad assumere il difficile compito di condurre il vascello liberale-radicale, anche attraverso acque agitate. Come già Petra Gössi – a cui va tutta la nostra riconoscenza per l’intelligenza, la caparbietà e la passione con cui è stata al timone per 5 anni - anche Thierry si orienterà al GPS liberale, ai valori di libertà, coesione e progresso.

Parmi ces trois valeurs c’est celui de l’innovation qui me semble le plus séduisant. Et je ne pense pas à l’innovation technologique, mais à l’innovation de la mise en œuvre des valeurs libérales dans le conteste de vie actuel.

Puisque le libéralisme – selon le prix Nobel Mario Vargas Llosa – « n’est pas une idéologie, mais une doctrine ouverte et évolutive qui s'adapte à la réalité plutôt que de forcer la réalité sous son joug “.

 

7. Fazit

Liebe Freisinnige, chers amis libéraux-radicaus, cari amici liberali-radicali

Lassen Sie mich auf einer etwas lockeren Note enden: die Lebensfreude stammt doch aus einer gewissen Leichtigkeit des Seins.

Ich verrate Ihnen ein kleines Geheimnis: Thierry und ich haben etwas ganz ganz Besonders gemeinsam:

Wir bekennen uns zu den … unmöglichen Farben!

Ich mit dem schönsten Sofa der Schweiz und Thierry mit seiner schönsten mint-farbenen Vespa der Welt. In beiden spürt man eine gewisse Italianità!

 

Und wenn ich schon daran bin, verrate ich Ihnen noch ein Geheimnis. Petra hat mit Thierry und mir etwas gemeinsam. Wir drei finden etwas unwiderstehlich, nämlich …

Die Gummibärli!

Deshalb möchte ich heute Petra und Thierry je ein Päckli Gummibärli schenken. Das ist das beste Antidepressivum und Anxiolytikum, das ich kenne.

Petra wird sich damit an all die süssen Momente des Präsidiums erinnern können.

Thierry wird sich als aargauischer Obersiggenthaler dank diesen Bäärli an die Bärenstadt gewöhnen können, wo er nun noch mehr Zeit verbringen wird.

Ich wünsche dir Thierry -  nach der hoffentlich erfolgreichen Wahl - Mut, Kraft, und Hartnäckigkeit, um das Erbe der liberalen Tradition im vorher erwähnten Sinne in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Packen wir die Chance, die sich uns bietet.

Grazie sin d’ora, caro Thierry, per il tuo impegno!

 


[1] Im Präambel der Bundesverfassung ist die Rede von Vielfalt in der Einheit. «Das Schweizervolk und die Kantone, (…) im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben, (…) geben sich folgende Verfassung».